Demokratie unter Schock: Martin Debes, FUNKEs Chefreporter in Thüringen, veröffentlicht Buch über Ministerpräsidentenwahl

Am 5. Februar 2020 wurde in Thüringen der FDP-Landesvorsitzende Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Der Eklat löste Schockwellen in der gesamten Republik aus. Martin Debes – Chefreporter der Thüringer FUNKE-Tageszeitungen „Thüringer Allgemeine“ (TA), „Ostthüringer Zeitung“ (OTZ) und „Thüringische Landeszeitung“ (TLZ) – hat die Hintergründe der damaligen Ereignisse recherchiert. Das Buch „Demokratie unter Schock – Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte“ ist in FUNKEs Klartext Verlag erschienen und ab sofort überall im Handel erhältlich.

Martin Debes arbeitet seit 20 Jahren als Politik-Journalist in Thüringen und hat unter anderem im Klartext-Verlag eine Biografie über die frühere CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht veröffentlich. Auf gut 240 Seiten schildert er in seinem neuen Buch viele, bislang öffentlich unbekannte Details, wie es zu der politischen Situation im Thüringer Landtag kommen konnte. Konspirative Treffen, geheime Absprachen, private Textnachrichten, interne Protokolle, verborgene Motivlagen: Erst diese Informationen lassen ein annähernd vollständiges Bild der Ereignisse entstehen.

Im Interview mit der Unternehmenskommunikation spricht er darüber, warum er das Buch geschrieben hat, wie er bei seiner Recherche vorging und welche Lehren aus den damaligen Ereignissen gezogen werden könnten.

Wie haben Sie als Journalist die dramatische Situation im Februar 2020 im Landtag erlebt?

Für mich war die Situation ein einschneidendes Erlebnis, eine Zäsur – nicht nur die Wahl von Thomas Kemmerich, sondern auch die vier Wochen danach, bis es zur Wiederwahl des Linken Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten kam. Das war ein völlig verrückter Monat: Es gab Demonstrationen auf den Straßen, ein absolutes Chaos im Landtag, in Erfurt tummelte sich die halbe Hauptstadtpresse. Die Bundesvorsitzenden der Parteien wie Christian Lindner und Annegret Karrenbauer reisten nach Thüringen, um die Krise zu lösen, mit sehr unterschiedlichem Erfolg.

Waren Sie überrascht darüber, welches Ausmaß diese politische Krise annahm?

Spätestens als Thomas Kemmerich sagte „Ich nehme die Wahl an“, war mir wie auch den meisten meiner Kolleginnen und Kollegen klar, dass es sich um einen historischen Tabubruch mit enormen bundespolitischen Auswirkungen handelte. Der damalige CDU-Landesvorsitzende Mike Mohring hatte am Abend vor der Wahl in einer internen Sitzung vor einem Tsunami gewarnt, falls diese Situation einträfe – und genau dieser Tsunami rollte dann über Thüringen bis nach Berlin. Die große Koalition geriet ins Schleudern, das verfrühte Rennen um die Kanzlerkandidatur wurde eingeläutet. Auch Angela Merkel griff rabiat ein. Aktuell befasst sich ja das Bundesverfassungsgericht mit der Frage, ob sie mit ihren Aussagen zur Wahl Kemmerichs das Neutralitätsgebot in ihrem Amt als Bundeskanzlerin verletzt hat.

Wie sind Sie bei Ihren Recherchen vorgegangen?

Da ich damals das Geschehen journalistisch begleitete, konnte ich zum Teil auf meine eigene Berichterstattung und meine Erinnerungen zurückgreifen. Ich habe mir die damaligen Fernsehaufnahmen noch einmal angesehen, viele Papiere ausgewertet, die Berichte der Kolleginnen und Kollegen studiert. Hinzu kamen viele intensive Hintergrundgespräche mit den beteiligten Personen. Darunter waren Bodo Ramelow oder Thomas Kemmerich, aber auch Vertreter der AfD. Ich habe zudem mit etlichen Bundespolitikern gesprochen.

Ihr Buch endet mit der damaligen Wiederwahl Ramelows. Aber der Thüringen-Krimi ist damit mit nicht zu Ende: Wie geht es nach der Absage der Neuwahl in Thüringen weiter?

Das weiß keiner. Wir haben ja hier in Thüringen weiter die rot-rot-grüne Minderheitsregierung, gleichzeitig ist mit Beginn der Sommerferien der im Winter 2020 vereinbarte Stabilitätspakt mit der CDU ausgelaufen. Die reguläre Landtagswahl steht erst im Herbst 2024 an. Ich schätze, dass es bis zur Bundestagswahl im September keine großen Entscheidungen in Thüringen geben wird. Erst danach werden sich die Landesparteien sortieren. Vielleicht gibt es im nächsten Jahr den nächsten Neuwahlversuch.

Inwieweit können aus den Ereignissen in Thüringen Lehren gezogen werden?

Thüringen ist seit Längerem eine Art „Demokratielabor“. Hier lässt sich sehen, wie schnell ein relativ stabiles Land politisch zu kippen vermag. Das könnte auch in Sachsen-Anhalt oder Hessen oder auch im Bund passieren. Meine Lehre daraus: Bei aller nötigen Konkurrenz darf die Gesprächsfähigkeit zwischen den Parteien und den Handelnden nie verloren gehen. Menschen, die demokratisch und pragmatisch handeln, dürfen nie aufhören, offen miteinander zu reden. Es muss ein Grundvertrauen unter Demokraten existieren.

Wie sollte man dabei der AfD begegnen?

Man sollte sich erst einmal nicht auf das demagogische Niveau der AfD herablassen. Man sollte dieser Partei vielmehr mit Argumenten entgegentreten, sie inhaltlich stellen. Für die immer größeren Teilen der Partei, die zunehmend extremistisch auftreten, gilt jedoch: Hier muss der Staat wehrhaft sein, hier muss die Zivilgesellschaft Widerstand leisten. Dabei bleibt es wichtig, nicht alle AfD-Wähler in eine Schublade zu stecken. Die Beweggründe der Menschen sind unterschiedlich. Ja, man muss Nazis benennen, wenn sie Nazis sind. Aber man sollte nie pauschal urteilen. Das entwertet nur die Begriffe. Überhaupt muss Deutschland noch lernen, mit rechtspopulistischen Bewegungen umzugehen.

Das Buch „Demokratie unter Schock – Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte“ erscheint im Klartext-Verlag und kostet 18,95 €. Das Buch ist über die Servicecenter der Thüringer Tageszeitungen, online unter www.lesershop-thueringen.de oder via Telefon unter 0361 – 227 5859 zu kaufen. 

Zurück